Streetwork an Brennpunkten
Andreas Abel, Gangway e.V.
Vortrag Fachtagung 29.09.2016
Gangway ist ein gemeinnütziger Verein, der 1990 gegründet wurde. In dieser Zeit gab es in Berlin ein damals neues Phänomen im Bereich der Jugendkulturen. Vor allem in den Stadtteilen Kreuzberg und Wedding schlossen sich Jugendliche, die vorwiegend türkisch-arabischer Herkunft waren, in Gangs zusammen und wurden von Sozialarbeit nicht mehr erreicht. Gangway wurde gegründet um mit diesen Jugendlichen zu arbeiten und diese dabei an ihren Treffpunkten auf der Straße aufzusuchen.
Inzwischen ist Gangway gewachsen und arbeitet heute in fast allen Berliner Bezirken, vorwiegend in der Jugendarbeit. Der Verein widmet sich ausschließlich der Straßensozialarbeit und hat nunmehr über 80 Mitarbeiter*innen. Seit einigen Jahren gibt es bei Gangway auch Teams, die mit Erwachsenen arbeiten, eins davon ist unser Team „Streetwork an Brennpunkten“ das mit erwachsenen Wohnungslosen bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen arbeitet. Derzeit sind wir sieben Kolleginnen und Kollegen und werden durch das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) finanziert. Theoretisch sind wir für das gesamte Gebiet des Landes Berlin zuständig, unsere Arbeit konzentriert sich jedoch auf vier verschiedene Sozialräume. In diesen Gebieten arbeiten wir kontinuierlich und sehen uns nicht als mobile Helfer die in Gesamtberlin alle Wohnungslosen aufsuchen. Unsere Einsatzorte sind derzeit:
- der Bahnhof Zoo
- der Ostbahnhof
- die Kurfürstenstraße
- der Alexanderplatz
Die Umgebung der vier Orte gehört ebenfalls zu unserem Tätigkeitsbereich.
Man könnte annehmen, dass Streetwork in einer Großstadt wie Berlin ganz anders ist, als in vergleichbar kleineren Städten. Aus unserer Sicht wäre jedoch der Ansatz von Streetwork stets der gleiche unabhängig von der Größe einer Kommune. Im Detail mag es Unterschiede geben, es ist alles etwas größer, es sind mehr Menschen und häufig mächtigere Akteur*innen in den Sozialräumen.
In unserer Arbeit orientieren wir uns an den Standards der Straßensozialarbeit der BAG Streetwork / mobile Jugendarbeit, d.h. unter anderem, dass wir einen ganzheitlichen Ansatz haben.
Der Begriff „Ganzheitlichkeit“ taucht in nahezu jedem Streetwork-Projekt auf, die Interpretation davon sieht jedoch höchst unterschiedlich aus. Es stellt sich zunächst die Frage, was denn als Ganzes betrachtet wird. Häufig wird hierbei von einem Individuum ausgegangen. Wir erachten es jedoch als sinnvoller das gesamte Phänomen „Wohnungslosigkeit“ zu betrachten und unterteilen dieses in verschiedene Ebenen, die Einfluss aufeinander haben und bei denen es nicht immer klare Grenzen gibt:
- Zunächst haben wir es mit der individuellen Ebene zu tun. Jede/r Streetworker*in beschäftigt sich mit Problemen und Stärken einzelner Personen. Generell lässt sich feststellen, dass sich soziale Arbeit primär in dieser individuellen Ebene bewegt. Bei vielen Arbeitsfeldern ist schon aufgrund der Finanzierung ein Arbeiten auf anderen Ebenen nicht möglich. Streetwork stellt hierbei eine Ausnahme dar, da sie zuwendungsfinanziert ist und somit die Möglichkeit hat auch in anderen Ebenen aktiv zu werden. Nichtdestotrotz sind individuelle Hilfen elementarer Bestandteil von Straßensozialarbeit.
- Des Weiteren gibt es die Gruppenebene. Konflikte innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen sind hierbei zu nennen. Die Gruppenebene hat aber noch einen anderen wichtigen Aspekt, den es später zu beleuchten gilt.
- Wohnungslose halten sich in Sozialräumen auf, in denen es häufig zu Konflikten mit anderen Nutzern bzw. Akteuren dieses Raumes kommt. Bei der Umgestaltung dieser Räume werden die Interessen wohnungsloser Menschen kaum berücksichtigt, obwohl es sich hierbei um ihren Lebensraum handelt und sie keinen anderen zur Verfügung haben. Umstrukturierungen werden in der Regel unter ökonomischen Gesichtspunkten vorgenommen. An allen vier Orten, die wir regelmäßig aufsuchen sind solche Veränderungen in massiver Form zu beobachten. Dies führt häufig zu Verdrängung durch die Gestaltung der Sozialräume einerseits und durch Repression andererseits.
- Bei Wohnungslosigkeit handelt es sich ohne Zweifel um ein gesellschaftlich-politisches Phänomen. Das Problem lässt sich nicht unabhängig von der Armutsentwicklung in diesem Land betrachten.
Unter anderem durch die weltweit globalisierte Wirtschaft und die Liberalisierung der Arbeitsmärkte in Deutschland, die unter anderem durch die Agenda 2010 bewerkstelligt wurde, sind in den letzten Jahren immer mehr Menschen in diesem Land von relativer Armut betroffen. Die Spitze des Eisberges stellen hierbei wohnungslose Menschen dar, die nicht nur von relativer sondern zusätzlich von existentieller materieller Armut betroffen sind. Menschen dieser Personengruppe haben aufgrund mangelnder materieller Ressourcen keine Möglichkeit eine zukünftige Lebensplanung zu betreiben. Sie leben „von der Hand in den Mund“. Des Weiteren sind sie aus vielen gesellschaftlich relevanten Bereichen, wie Bildung, Kultur und Sport weitestgehend ausgeschlossen und in den Bereichen Wohnen, Gesundheit und Arbeit sind sie mangelhaft versorgt. Auch an der gesellschaftlichen Willensbildung sind sie größtenteils nicht beteiligt, was im Widerspruch zu dem Idealbild einer demokratischen Gesellschaftsordnung steht.
Ziel muss es also sein, dass von Armut betroffene Menschen bzw. Wohnungslose an der Gesellschaft teilhaben (partizipieren). Nur wie? Es gibt oft gut gemeinte Überlegungen die in der Praxis jedoch kaum funktionieren. In Berlin kam man beispielsweise auf die Idee Hartz IV- bzw. Sozialhilfeempfänger*innen am kulturellen Leben teilhaben zu lassen indem man ihnen an allen großen Theatern die Möglichkeit eröffnete für 3,-€ die Vorstellungen zu besuchen und dies auf allen Plätzen. Das Angebot wird jedoch kaum angenommen. Offensichtlich ist die Kultur, die in den Staatstheatern angeboten wird nicht die Kultur der Menschen die von Armut betroffen sind. Es liegt aber wohl auch an der Herangehensweise. Das Ziel wird nämlich häufig ein wenig, aber doch ganz entscheidend anders formuliert und zwar: Ziel ist es von Armut betroffene Menschen bzw. Wohnungslose an der Gesellschaft teilhaben (partizipieren) zu lassen. Der Satz wird also im Passiv formuliert. Dies bringt zwei Probleme mit sich:
- Wenn Partizipation nur durch „teilhaben lassen“ geschieht, gibt es eine klare Hierarchie. Wer jemanden teilhaben lässt, hat auch die Macht die Teilhabe zu verweigern. Es besteht also keinesfalls Augenhöhe.
- Die Gesellschaft, an der die Menschen teilhaben sollen (laut Zielformulierung) ist nicht die Gesellschaft dieser Menschen. Sie haben sie nicht mitgestaltet und man kann nicht erwarten, dass sie ein Interesse daran haben hier mitzuwirken. Es funktioniert also nicht Menschen in das Bestehende zu integrieren, sondern das Bestehende muss neu verhandelt werden, wenn darin Menschen mitmachen sollen, die vorher nicht dazu gehörten. Es würde doch auch niemand auf die Idee kommen muslimischen Geflüchteten aus Syrien an der westlichen Kultur teilhaben zu lassen, indem wir ihnen einen Schweinebraten servieren (Lebensweltorientierung).
Für eine Partizipation ist also eine Emanzipation der marginalisierten Gruppe notwendig. Emanzipieren können sich Menschen jedoch nur selber. Dies kann nicht durch Außenstehende geschehen, also auch nicht durch Sozialarbeiter*innen. Damit ein emanzipatorischer Prozess stattfinden kann bedarf es gewisser Voraussetzungen und an diesen kann soziale Arbeit durchaus mitwirken. Was daraus entsteht oder auch nicht ist dabei völlig offen.
Um für seine Rechte einzutreten bedarf es eines ausgeprägten Selbstbewusstseins, das in der Regel zunächst nicht vorhanden ist. Des Weiteren ist eine Identifikation mit der eigenen Identität notwendig. Das Merkmal einer marginalisierten Gruppe, aufgrund dessen der Ausschluss aus gesellschaftlichen Prozessen erfolgt muss in den Vordergrund gerückt und nicht als Makel sondern als Stärke verstanden werden.
Betrachtet man andere emanzipatorische Bewegungen von Gruppen, die in der Gesellschaft benachteiligt waren, bzw. immer noch sind und die gesellschaftlichen Einfluss gewinnen konnten, lassen sich bestimmte Parallelen feststellen wie dieser Prozess zum Erfolg führte. Beispielhaft hierfür seien die Arbeiter*innen-, die Schwulen- und Lesben-, die Frauen- oder auch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung genannt, wobei man berücksichtigen muss, dass Wohnungslose in der Gesellschaft eine zahlenmäßig viel kleinere Gruppe darstellen. Dies gilt jedoch nicht wenn man Wohnungslose als Teil einer größeren Gruppe, nämlich der von Armut betroffenen Gesellschaftsschicht betrachtet.
Auffällig an den genannten emanzipatorischen Bewegungen ist, dass diese bevor sie in der Gesellschaft Gehör fanden bzw. sich Gehör verschafften, sich zunächst intern organisierten und austauschten. Speziell in der Arbeiter*innenbewegung gab es unzählige Gruppen, die sich mit verschiedenen Themen beschäftigten und die zum Teil auf den ersten Blick betrachtet gänzlich unpolitisch waren. Es gab Gruppen, die Theater spielten, eine Wanderbewegung, verschiedene Sportaktivitäten, etc. Obwohl das Ziel hierbei zunächst noch kein politisches war entstand dadurch ein Austausch unter den einzelnen Gruppenmitgliedern und ein „Wir-Gefühl“. Ohne diesen Prozess wäre die gesellschaftliche Kraft dieser Bewegung nicht möglich gewesen.
Sehr ähnlich gelang es der Schwulen- und Lesbenbewegung Einfluss zu gewinnen. Auch hier bildeten sich zunächst kleinere Schwulen- und Lesbeninitiativen und viele Gruppen, die eine schwul-lesbische Subkultur entwickelten, bevor sie mit ihren Anliegen an die Öffentlichkeit traten. Das entscheidende bei diesen Prozessen ist offensichtlich das Entwickeln eines Selbstverständnisses und eines Zusammengehörigkeitsgefühls, sowie der Aufbau eines Selbstbewusstseins. Gerade dies ist besonders wichtig, da marginalisierte Gruppen häufig nicht die Stimme erheben, da sie gesellschaftlich nicht akzeptiert sind und somit die Befürchtung haben noch mehr an den Rand gedrängt zu werden, wenn sie für ihre Rechte eintreten.
Dies sind Voraussetzungen für Veränderungen, die zunächst intern geschehen müssen.
Überträgt man auf Wohnungslose die Beobachtungen, wie es emanzipatorischen Bewegungen gelang Mitsprache zu erreichen, ohne dabei die eigene Identität zu leugnen, sondern diese, im Gegenteil, sogar hervorzuheben, ergeben sich daraus Aufgaben für die soziale Arbeit, wie solche Prozesse angestoßen, flankiert, unterstützt oder auch zum Teil initiiert werden können. Streetwork kann hierin seine Aufgabe sehen, da sie im Gegensatz zu anderen Bereichen der Wohnungslosenhilfe auf eine Vielfalt an Methoden zurückgreifen kann und nicht auf Einzelfallarbeit beschränkt ist.
Es ist also einerseits notwendig Wohnungslose beispielsweise bei der Klärung von Konflikten im öffentlichen Raum zu involvieren und ihnen die Möglichkeit zu geben für ihre Interessen einzutreten und andererseits das Zusammengehörigkeitsgefühl und den internen Austausch durch Gruppenaktivitäten zu fördern. Des Weiteren sollten sie die Möglichkeit haben sich mit ihren Aktivitäten in der Öffentlichkeit zu präsentieren um auf ihre Probleme, aber vor allem auch auf ihre Potentiale aufmerksam zu machen. Sie dabei zu unterstützen und solche Prozesse zu begleiten sind erste Handlungsschritte um eine Partizipation und eine spätere Selbstorganisation zu ermöglichen.
Aus diesen Gründen sind wir in unserer Arbeit bemüht Wohnungslose durch Gruppenaktivitäten zusammenzuführen und hierbei die Gruppenidentität und das Selbstwertgefühl zu steigern. Ein Beispiel hierfür ist unser Fußballprojekt. Wir haben eine Mannschaft mit der wir einmal in der Woche trainieren und an diversen Turnieren teilnehmen. Das Team hat sich selbst den Namen „Ocker-Beige Berlin“ gegeben. Man könnte genauso gut mit anderen Aktivitäten Gruppen bilden; Fußball bietet sich jedoch an, da es erstens eine Mannschaftssportart ist und sich zweitens viele Menschen für diesen Sport begeistern. In der Mannschaft spielen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität. Verbindendes Element ist, neben dem Sport an sich, die Wohnungslosigkeit der Teilnehmer*innen. Obwohl Fußball eigentlich eine gänzlich unpolitische Aktivität ist, hat dieses Projekt aus genannten Gründen einen politischen Charakter. Vor Allem Turniere wie die Deutschen Meisterschaften der Wohnungslosen haben außerdem eine Außenwirkung, da sie im öffentlichen Raum stattfinden und in der Regel die Presse über so ein Event berichtet.
Im letzten Jahr organisierten wir die Europameisterschaft der Wohnungslosen, den „European Homeless Cup“. Das Turnier fand im Herzen der sog. „City-West“ auf dem Breitscheidplatz in Charlottenburg, direkt neben der Gedächtniskirche, dem Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße statt. Der dortige Sozialraum ist geprägt durch ein Aufeinanderprallen extremen Reichtums mit extremer Armut. Des Weiteren unterliegt er einem starken Wandel durch die Aufwertung dieses Gebiets unter ökonomischen Gesichtspunkten (Luxushotels, hochpreisige Geschäfte und Shopping-Malls)
Diese Veranstaltung beinhaltete alle genannten Ebenen der Problematik „Wohnungslosigkeit“, wie sie anfangs unter unserem Verständnis von Ganzheitlichkeit erläutert wurde.
Es hatte Wirkungen auf der individuellen der Gruppen- der sozialräumlichen und der politisch- gesellschaftlichen Ebene.